In Deutschland bleiben pro Jahr mehr als 250.000 Schüler sitzen, zu zwei Dritteln sind es Jungen. Schleswig-Holstein ist Spitzenreiter unter den 16 Bundesländern, wenn es um das Wiederholen einer Klasse geht. Hamburg gibt jährlich 25 Millionen Euro für seine 3000 Sitzenbleiber aus, so dass schon lange gefragt wird, ob man dieses viele Geld nicht besser in die Förderung schwacher Schüler investieren sollte, statt ihnen mit „Ehrenrunden“ ein Jahr ihrer Biografie zu stehlen. In der Bevölkerungsmehrheit herrscht immer noch der Eindruck vor, Sitzenbleiber würden mit dem Wiederholen Zeit geschenkt bekommen, um ihre Lücken zu schließen. Meist ist jedoch das Gegenteil der Fall: In etwa 80 Prozent der Fälle verschlimmert sich die Situation der Klassenwiederholer, wie viele internationale Studien belegen. Sie resignieren, sie fühlen sich beschämt, sie leiden darunter, plötzlich viel älter als ihre Mitschüler zu sein, von denen sie teilweise sogar ob ihres Versagens gehänselt werden, und manche geben sich ganz auf, so dass sie nicht nur sitzenbleiben, sondern auch danach noch als Rückläufer vom Gymnasium in die Realschule und von da in die Hauptschule wechseln, die sie dann schließlich ohne Abschluss verlassen müssen; sie werden geradezu nach unten durchgereicht und fühlen sich selbst als „Loser“, einem Gefühl, das in seltenen Extremfällen sogar bis zu einem Amoklauf wie dem von Robert Steinhäuser am Gutenberg- Gymnasium zu Erfurt führen kann.
Studien über das Sitzenbleiben besagen, dass es nur in den Fällen zu einer positiven Entwicklung des Schülers beiträgt, in denen er das Wiederholen der Klasse selbst akzeptiert, was eigentlich nur dann geschieht, wenn er längere Zeit wegen Krankheit den Unterricht versäumen musste oder wenn er ohnehin im Vergleich zu den Mitschülern zu klein war, so dass er sich freut, endlich eine ähnliche Körpergröße wie seine Mitschüler zu haben. Schleswig-Holstein hat also das Sitzenlassen zu Recht verboten, denn mit Förderkursen lässt sich eindeutig ein höherer Bildungsertrag erzielen als mit strafend- beschämenden Warteschleifen. Die Hamburger Hauptschule Ehestorfer Weg weist mit ihrer Teilnahme an dem bundesweiten Projekt „Individuelle Förderung statt Klassenwiederholung“ jedenfalls eindrucksvoll nach, dass die Investition in die Kompensation von Defiziten, die meist Verhaltens- und nicht Begabungsdefizite sind, dreimal so viel bringt wie das „Backenbleiben“, von dem manch ein Zeitgenosse leider immer noch selbstrechtfertigend behauptet, es habe ihm „nicht geschadet.“
Text: Prof. Dr. Peter Struck