Reisen ohne Covid-Test und Mundschutz – die 62. Nordischen Filmtage in Lübeck

fatfront2bedre7Weltbekannt ist James Joyces Roman „Ulysses“, in dem er einen einzigen Tag im Leben des James Bloom skizziert. Allerdings benötigt der irrische Autor nicht weniger als Tausend Seiten, um jeden einzelnen Gedanken des Protagonisten und jede noch so flüchtige Begegnung dieses Tages auf Papier zu verewigen.

Und leider steht dieses Buch seit nun mehr sieben Jahren ungelesen in meinem Bücherregal.

Weniger Überwindung kostet mich da das Eintauchen in die Nordischen Filmtage, die mir erlauben wie verdichtet 24 Stunden sein könnten.

Mein Roadtrip durch die nordische Filmlandschaft führt mich zunächst mit Kommissar Sörensen (Bjarne Mädel) von Hamburg über die A7 an den nordfrischischen Deich. Das überwiegend vorherrschende Schietwetter in diesem Film spiegelt die Verfassung des unter Angstzuständen leidenden Polizisten passgenau wider.

Nachdem der Fall gelöst ist, schlage ich mich über die Grenze nach Dänemark. Weder Wildscheinzaun noch Pandemieverordnungen können mich vom Betreten Jütlands abhalten.

Hier begegne ich Oyvind, der gerade zum ersten Mal auf seinen Vater trifft. Anstatt Interesse an seinem Sohn zu zeigen, beschäftigt sich dieser lieber mit den Krokodilen im nahegelegenen Zoo.

„Krokodilstränen“ fließen nach diesem Kurzfilm noch nicht, aber dafür ist es nun nicht mehr weit nach Island. Am besten die Fähre von Hanstholm chartern und über die Faröer Insel in zwei Tagen an der Ostküste in Seydesfjördur landen. Gerade rechtzeitig um mich sechs Anglern beim Lachsfischen anzuschließen.

In „Der letzte Angelausflug“ sind neben dem standesgemäßen Blinkern und dem richtigen Angelequipment insbesondere Unmengen an Alkohol unersetzlich.

Keine schlechte Idee, um während der im Sommer nicht untergehenden Sonne ein paar Stunden Schlaf abzuringen. Schon rasch haben sich die Männer ihrer Kleidung entledigt und rennen nackt und befreit gleich Kindern dem Leder auf einem Bolzplatz hinterher.

Das feuchtfröchliche Angelvergnügen nimmt seinen Lauf.

Zurück in Reykjavik kommt daher ein kurzer Besuch in der „Hausfrauenschule“ gelegen, um sich von den Strapazen des Wochenendes zu erholen.

Die Dokumentation nimmt den Zuschauer mit auf eine Reise von Generationen von Absolventen des Islandpullover strickens und des faltenfreien Bügelns.

Die Bilder erzeugen eine große Nähe und Wärme, die aber auch zu einem Nickerchen einladen.

Ausgeruht geht der Parforceritt weiter. Als nächstes stellen wir uns mit Benedikt (Olafur Darri Olafsson) den Präsidentsschaftswahlen in Island. Aber weil ihm seine Integrität über allem steht, möchte er die Wahl zum nächsten Ministerpräsidenten nur dann annehmen, wenn mindestens 90 Prozent der Wähler auch ihre Stimme abgeben.

„Der Minister“ ist eine Serie, in der deutlich wird, dass die Korruption auch nicht vor dem beschaulichen Island halt macht.

Aber die „Hoffnung“ stirbt zuletzt. Deshalb wage ich den Sprung nach Norwegen, wo das Hoffen auf eine schwere Probe gestellt wird. Erst die Diagnose „unheilbar“offenbart der Theaterregisseurin Anja (Andrea Braein Hovig) und ihrem Lebensgefährten Tomas (Stellan Skarsgard) was sie wirklich einander haben. Aber wie sollen sie es ihren Kindern sagen – und dann auch noch an Weihnachten? Auch mir wird wieder bewusst, an welchem seidenen Faden unser Leben hängt.

Vielleicht ist es doch eine gute Idee, dass ich mein Schicksal in die Hände des Allmächtigen lege. Aber zum Glück begegne ich in „Disco“ der 14 -jährigen Mirijam. Sie feiert große Erfolge als Disco-und Freestyledancerin. Aber durch ihre Familie wird sie auch in eine fundamentalistische Kirchengemeinde katapultiert. Schnell wird sie mit dem Vorwurf konfrontiert eine Sünderin zu sein und die vermeintlichen Gottesgläubigen scheuen auch vor Exorzismus nicht zurück.

Ich befürchte, schon jetzt fällt es Ihnen schwer mir zu folgen. Aber die Reise hat doch gerade erst begonnen. Was bedeutet es, wenn man nicht den heutigen Idealmaßen einer Influencerin auf Instagram entspricht, sondern über 100 kg wiegt. Vier junge Damen sind täglich mit diesem Schicksal konfrontiert, weigern sich aber ins gesellschaftliche Abseits drängen zu lassen („Fat Front“).

In Schweden begegne ich Alice, die um ihre zwei Kinder kämpft, deren alleiniges Sorgerecht der Vater bekommen hat. Auch George läuft uns in Stockholm über den Weg. Aus Mangel an Arbeit und hohen Steuerschulden hat der virtuose Familienvater beschlossen, den Mord an dem ehemaligen schwedischen Ministerpräsidenten Olav Palme aufzuklären. Schon nach kurzer Zeit steckt er bis zum Hals in einem Sumpf an Verschwörenstheorien und zwilichten Personen, für die die Aufdeckung des Mordes zur Obsession geworden ist – nicht zuletzt auch wegen der 500.000 Kronen Belohnung.

Nach diesen Turbulenzen wird es Zeit die Reise fortzusetzen und dem beschaulichen Finnland einen Besuch abzustatten. Nicht umsonst wohnen die glücklichsten Menschen laut eines UN-Berichts in Suomi. Allerdings zeigt die Doku „Weltglücksreport“ auch die Schattenseiten des Glücklichseins.

Der Spielfilm „Gesellschaftsspiele“ bestätigt die Tatsache, dass die Finnen zwar gerne saunieren und insbesondere zur Mitsommernacht tief ins Glass schauen, aber auch ihre dunklen Seiten haben.

Mit den Samen überqueren wir auch die Grenze nach Russland, bevor wir den Rückweg über Estland einschlagen. Hier wartet die 22-jährige Allisija in einem Kaff an der lettischen Grenze. Sie hat sich dazu entschlossen an einem Experiment teilzunehmen. Sie tauscht ihren Platz an der Supermarktkasse gegen einen Platz im Theaterparkett. 224 Vorstellungen muss sie sich binnen eines Jahres anschauen und über jedes Stück ihren persönlichen Eindruck teilen.

Die Augen sind schon rötlich gefärbt, aber ein Film geht noch. Der diesjährige NDR-Filmpreis geht in diesem Jahr an „Die Grube“ aus Lettland. Markuss ist meistens auf der Flucht. Nirgends findet er ein Zuhause. Weder bei seiner Großmutter und noch die Bewohner in dem kleinen Dorf begegnen ihm mit offenen Armen.

Erst der „Seemann“ im nahegelegenen Wald begegnet ihm mit Offenheit. Aber er trägt ein dunkles Geheimnis mit sich, das ihn mit Markuss’ Großmutter verbindet.

Der Film überzeugt durch seine Einfühlsamkeit, trägt am Ende doch eher dick auf. Etwas weniger Hollywood hätte dem Film gut getan.

Vielleicht ist es aber auch die Müdigkeit, die Besitz von mir ergriffen hat. Es ist unglaublich, welche Schicksale und Eindrücke mir in den letzten Stunden begegnet sind. Raum und Zeit haben sich verdichtet wie schlechte Milch in einer abgelaufenen Milchpackung.