Was wirklich mit Van Goghs Ohr geschah

Neue Spekulationen über van Goghs abgeschnittenes Ohr. Zwei Autoren behaupten jetzt, dass sich der Maler nicht selbst verstümmelt habe – sein Freund Paul Gauguin sei es gewesen. In ihrem Buch “Van Goghs Ohr” erzählen sie akribisch den Kriminalfall. Dabei spielt eine Hure eine tragende Rolle. Von Uta Baier

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Wollen wir das wirklich wissen? Ist nicht genug spekuliert worden über Vincent van Gogh und sein abgeschnittenes Ohr? In den vergangenen Jahren hat sich die Diskussion etwas beruhigt und die allgemeine Überzeugung dahingehend gefestigt, dass sich van Gogh am Abend des 23. Dezember 1888 überreizt, überarbeitet, von Paul Gauguin genervt und vom Absinth betrunken ein Stückchen vom linken Ohr abgeschnitten hat.

Ein ganzes Ohr, so liest man immer wieder, könne es nicht gewesen sein, sonst wäre er verblutet. Mit dieser Interpretation der Ereignisse lebt es sich gut: Van Gogh wird nicht allzu sehr in die Ecke des wahnsinnigen Künstlers gedrängt, seine ungeklärte Krankheit wird nicht weiter dämonisiert, und die Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf sein Werk.

Doch nun haben Rita Wildegans (Kunsthistorikerin) und Hans Kaufmann (pensionierter Lehrer) in ihrem Buch “Van Goghs Ohr. Paul Gauguin und der Pakt des Schweigens” eine Interpretation der Ereignisse vorgeschlagen, die nicht nur wieder von einem ganzen abgeschnittenen Ohr ausgeht, sondern auch noch Paul Gauguin als Täter identifiziert.

Paul Gauguin (Quelle Wikipedia)

Paul Gauguin (Quelle Wikipedia)

Nach ihrer Version geschah am letzten Tag der Zusammenarbeit der beiden so verschiedenen Maler im Gelben Haus in Arles folgendes: “Nicht Vincent selbst hat sich in einem Akt des Wahnsinns mit einem Rasiermesser das Ohr abgeschnitten, sondern Paul Gauguin hat im Streit mit ihm und möglicherweise provoziert durch Vincents Verhalten zur Waffe gegriffen und damit Vincent van Gogh das linke Ohr abgetrennt. Um sich vor Strafverfolgung zu schützen, hat er anschließend die Legende von der Selbstverstümmelung des wahnsinnigen Malers erfunden und verbreitet.”

Alle sind bisher auf diesen “Pakt des Schweigens” hereingefallen, nur die Autoren dieses Buches nicht. Verschwörungstheorien und ihre angeblichen Beweise sind nach eben diesem Muster konstruiert. Das überraschende an diesem Buch ist aber, dass der nicht allzu verbohrte Leser am Ende ziemlich überzeugt ist, dass es durchaus Gauguin gewesen sein könnte. Auch wenn einige Zweifel bleiben – die Beweiskette, dass van Gogh mehr als das Ohrläppchen abgeschnitten wurde, ist dicht und überzeugend.

Während die üblichen Biografien kurz und bündig erklären, der Verlust eines ganzen Ohres wäre tödlich gewesen, prüfen Wildegans und Kaufmann die Berichte der Zeitzeugen noch einmal und glauben ihnen: Die örtliche Zeitung “Forum Républicain” schrieb am 30. Dezember unter der Rubrik Chronique locale “Letzten Sonntag um 23.30 Uhr erschien eine gewisser Vincent Vangogh (sic), Maler, gebürtig aus Holland, im Bordell Nr.1, verlangte nach einer gewissen Rachel und hat ihr – sein Ohr gegeben, indem er sagte: Bewahren Sie diesen Gegenstand sorgfältig auf.”

Die Hure, der van Gogh das Ohr brachte, hat es als solches erkannt und fiel in Ohnmacht. Der behandelnde Arzt, Dr. Félix Rey, dem bis heute gern zur Diskreditierung seiner Glaubwürdigkeit, sein damaliges Alter von 21 Jahren vorgeworfen wird, bestätigte ihre Aussage. Außerdem ist es nicht anzunehmen, dass man nach einer Ohrläppchenverletzung bis zur Bewusstlosigkeit blutet, wie es von Vincent van Gogh immer wieder berichtet wurde.

Mag sein, der Streit um die Größe des abgeschnittenen van Gogh-Ohr ist ein Streit um Zentimeter. Doch entscheidend sind die Auswirkungen auf die Bewertung des Malers. So war seine Schwägerin Johanna van Gogh-Bonger bemüht, das Bild der Familie schönzufärben. Dazu frisierte sie nicht nur den Briefwechsel der van Gogh-Brüder, den sie heraus gab, sondern erfand auch die Legende vom verletzten Ohrläppchen. Heute, wo der geniale, aber planende und sich seiner selbst bewusste Künstler das Ideal ist, passt eine solche Interpretation perfekt.

Allerdings wäre van Gogh auch nach der Theorie des fast komplett abgeschnittenen Ohres keineswegs als Wahnsinniger abgestempelt. Vielmehr nimmt sie der Tat alles Wahnsinnige. Denn nicht van Gogh hat sich verletzt, sondern Gauguin hat ihm im Streit das Ohr abgeschlagen. Damit wäre auch geklärt, wie der stark blutende van Gogh es noch ins Bordell geschafft haben soll. Denn Wildegans und Kaufmann nehmen an, dass die Tat in der Nähe des Bordells geschah und van Gogh dann ins Gelbe Haus ging, wo die Polizei am folgenden Tag nicht nur den bewusstlosen van Gogh fand, sondern auch viele blutverschmierte Tücher.

Bei aller Überzeugungskraft der Argumentation hat das Buch allerdings einen entscheidenden Makel: Hypothese und Beweis füllen hundert Seiten, denen 260 Seiten Einführung voran gehen. Nun sind ein paar Lebensbeschreibungen – sozusagen als frischer Aufguss eines alten, längst erforschten Themas – wie eine kleine Erinnerungshilfe.

Doch hier ist es eine allzu lange; zumal diese Einführung auf eine Verunglimpfung Paul Gauguins hinaus läuft. Da er am Ende als skrupelloser Lügner, Schläger und verantwortungsloser Malerkollege die Szene verlassen soll, suchen die Autoren solche Charaktereigenschaften in seiner Biografie – und finden sie. Gauguin konnte in der Tat gewalttätig sein, und er war selbstsüchtiger und selbstbewusster als viele andere. Nur hätte die Argumentation nichts von ihrer Glaubwürdigkeit verloren, wenn die Autoren nicht permanent ihre Antipathie gegen Gauguin herausgestellt hätten.

Vincent van Gogh muss in dieser Konstellation natürlich das in Gauguin verliebte Opfer sein. Diese Schwarz-Weiß-Gegenüberstellung ist ärgerlich und rückt die Autoren in die Ecke der Verschwörungstheoretiker. Letztendlich winden sie sich da aber erfolgreich heraus.

Trotzdem ist nicht anzunehmen, dass Scharen von Kunstwissenschaftlern ihr immer wiederholtes und seit langem als unumstößlich festgeschriebenes Bild von der kleinen Selbstverletzung am Ohr jetzt aufgeben werden. Es wäre schön, wenn sie sich mit ähnlicher Akribie wie diese beiden Autoren noch einmal dem Ohr widmeten, damit der Streit ums Ohr einmal ein Ende hat.

Rita Wildegans, Hans Kaufmann: Van Goghs Ohr. Osburg, Berlin. 392 S., 22,90 Euro.

Quelle: Die Welt