Die 60. Nordischen Filmtage in Lübeck
Der finnische Tango ertönt und schon öffnet sich die Welt des Nordens. Egal ob verschneite Winterlandschaften, dichte Fichtenwälder mit bemoostem Waldboden oder Schären inmitten einer schwedischen Sommeridylle. Das Fernweh flackert immer wieder auf. Der Wunsch nach der skandinavischen Abgeschiedenheit verdichtet sich immer wieder. Der Alltag tritt zurück.
Alles das sind Symptome, dass die 60. Nordischen Filmtage in Lübeck begonnen haben und die Stadt wieder durch einen kulturellen Trubel der besonderen Art verwandelt wird.
„Astrid“macht den Anfang. Der Film von Pernille Fischer Christensen handelt von der schwersten Zeit im Leben der schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren. Diese erwartet ein uneheliches Kind, für das es keinen Platz im Schweden der 1920er Jahre zu geben scheint – weder bei ihren Eltern noch bei dem Vater. Im Abspann des Films bedanken sich Kinder bei der nun betagten Autorin mit einem Lied: „Du musst springen – vom Tod in das Leben“.
Mit jedem Film, der sich den Zuschauern auf den 60. Filmtagen präsentiert, wird genau dieses bezweckt. Ein Sprung, der Vertrauen erfordert, aber gleichzeitig mit dem Eintauchen in eine neue Welt belohnt.
Natürlich werden auch historische Persönlichkeiten in den Filmen beleuchtet. „Christian IV“ oder die schwedische Musiklegende Ted Gärdestad begegnen uns auf der Leinwand. Aber überwiegend sind es doch die stillen Zeitgenossen, die nur allzu leicht übersehen werden, weil sie uns im Alltag nur flüchtig begegnen. Sie sitzen an der Kasse am Supermarkt oder stehen fast unsichtbar am Security Check am Flughafen. Sie streifen uns nur als Statisten und im selben Moment verschwinden sie auch schon wieder. Eines zweiten Blickes erscheinen sie uns nicht würdig.
In Abbasis Film „Border“ wird die Zollbeamtin Tina aber in den Mittelpunkt katapultiert. Sie selber betrachtet sich als deformiert und auch dem Zuschauer ist sie aufgrund ihrer groben Gesichtszüge nicht auf Anhieb sympathisch. Erst im Laufe des Films offenbaren sich Parallelen zu Hans Christian Andersens „Das hässliche Entlein!“ Die Tatsache, nicht an den Kategorien der Entenfamilie gemessen werden zu müssen, befreit den Schwan von allen negativen Vorzeichen.
Erst die Begegnung mit Vore, der mit seinen besonderen Essgewohnheiten und seinem nicht unbedingt appetitlichen Aussehen auch nicht gesellschaftsfähig ist, kann sie sich über die Mangelerscheinungen in ihrem Leben hinwegsetzen.
Begegnungen mit Elchen und Füchsen in den dunklen Wäldern verschaffen ihr wesentlich mehr Befriedigung als gemeinsame Fernsehabende mit ihrem Partner Roland auf der Couch, der eigentlich nur an der Zucht von Kampfhunden interessiert ist und Gesprächen mit Tina keine Beachtung schenkt.
Abbasis Kunstwerk hinterfragt geschickt unsere gesellschaftlichen Errungenschaften. Sein Film „Gräns“ (Border) gewann in Cannes 2018 den Hauptpreis der Sektion „Un Certain Regard“
Der Beginn der Filmtage macht Lust auf mehr. Bis einschließlich Sonntag laufen noch Filme aus den Genres Spielfilm, Specials, Dokumentation, Kinder-und Jugendfilm, Retrospektive sowie Serien. Tauchen Sie ein!
Stefan Tietjen