Bismarck und die schönen Frauen – cum grano salis

aug 16 002imagesBismarck_Wilhelmine_Bismarck_Johanna_1847 Bismarcks_Wappen_Bismarck_Wir_Deutschen_Berlin-Hamburg-Redaktionen:
bitte redigieren mit Fotos – Wilhelmine und Johanna

 

 

Liebhaber Bismarck: com grano salis – Autorin Galina Khotinskaya-Kallis

 

Von Galina Khotinskaya-Kallis

Bismarcks rhetorisches Talent, sein „cum grano salis“, (mit einem Körnchen Salz) und wie der Weltmeister der internationalen Diplomatie zum Reichsgründer mit russischer Rückendeckung wurde.

I. Herkunft und Charakter

Der genialste Spross des preußisch-pommerschen Landjunkertums, Otto Eduard Leopold Fürst von Bismarck (1815-1898), gehört unbestritten zu den Weltmeistern auf dem Gebiet der Diplomatie und Rhetorik.
Er war einmalig als hervorstechender Politiker und Staatsmann. Man verglich ihn oft mit Talleyrand und Metternich. Bismarck hatte einen charismatischen Humor, bezaubernde Schlagfertigkeit, Sprachbegabung (er beherrschte Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch, aber auch Russisch und Estnisch), er war ein gebildeter Mann, sein Religions-Professor war Fr. Schleiermacher, Bismarck interessierte sich sehr für schöne Literatur, er liebte Hegel, Beethoven und Shakespeare, zitierte perfekt die Ovidschen „Metamorphosen“, „die Episten“ von Horaz, kannte auswendig Goethe und Schiller, russische Literatur und die politischen Studien von Baruch Spinoza.
Nicht zufällig entstand sogar der Bismarckepos. Allein hierzu entstanden drei Dissertationen :

Bismarck hatte ungemeine Vitalität. Paul Sethe merkte: „Bismarck war eine Natur von vulkanischer Leidenschaft“. Er liebte gutes Essen und schöne Frauen. Das Thema „Die Liebe im Leben von Fürst Otto von Bismarck ist kaum erforscht, genau so wie das Thema seines Familienglücks. Das Wort „Liebe“ umschließt einen großen Spannungsbogen im Leben des ersten Kanzlers Deutschlands. Er lebte zudem ohne Heuchelei und Phrase, mutig aus der privaten Erkenntnis. Er gehörte selbst zu den großen Liebenden und Liebhabern. Das Geheimnis Bismarcks Liebe ist bis heute nicht enträtselt – es ist etwa von seiner Liebe zu Gräfin Orlova nur ein wenig bekannt.
Bismarck war sehr leidenschaftlicher Mensch und verkörperte etwas Dämonisches in sich. Bei der Vereidigung des Vertrages bei Olmütz sagte er: „Die einzige Grundlage der Politik eines großen Staates ist der Egoismus und nicht die Romantik“. Für seinen unbeugsamen Willen nannte man ihn den „Eisernen Kanzler“. Unmittelbar nach der Übernahme der Geschäfte prägte Bismarck das berühmt gewordene Schlagwort: die deutsche Frage „müsste nicht durch Reden und Mehrheitsbeschlüsse, sondern durch Blut und Eisen gelöst werden“.
Fjodor Dostojewskij schrieb in seinen Erinnerungen über seine:
„wunderbare militärische Haltung, die strenge, gleichmäßige Ausrichtung und zugleich ungewöhnliche Freiheit … wie ich sie noch nie an Soldaten wahrgenommen habe, auch die zielbewusste Entschlossenheit von dem Bündnis mit Russland allem Anschein nach die Schicksheit, die sich in jeder Geste, jedem Schritt dieser tapferen Burschen zeigte … diese historische Aufgabe seit Armin dem Cherusker, seit Luther und jetzt wieder zu Bismarcks Zeit ein Protest gegen Rom, römische Ordnung und römische Kirche … Deutschland braucht das Bündnis mit Russland“, weil „die Abhängigkeit von dem Bündnis mit Russland allem Anschein nach die schicksalhafte Bestimmung Deutschlands ist, und das besonders seit dem Deutsch-Französischem Kriege“.

Friedrich Engels war offenbar ähnlicher Auffassung und schrieb 1890, dass „das neue Deutsche Reich Russland den Gefallen tat, Elsass-Lothringen von Frankreich loszureißen und damit in der Tat Frankreich in die Arme Russlands zu treiben“.
Am 18. Januar 1871 fand im Spiegelsaal des Versailler Schlosses die Kaiserproklamation statt, während noch die deutschen Armeen vor Paris standen. Dieses Ereignis hat der Maler Anton von Werner in einem Monumentalgemälde festgehalten. Der Künstler gestaltete darüber hinaus mehr als 85 Portraits und Darstellungen von Bismarck.
Auf dem Gemälde im Spiegelsaal des Versailler Schlosses ist der Augenblick der Ausrufung des preußischen Königs zum Deutschen Kaiser durch den Großherzog Friedrich von Baden zu sehen, nachdem Bismarck in weißer Kürassieruniform die Proklamation verlesen hatte. Das Bild gibt sehr deutlich den Charakter der Reichsgründung wieder.
Es ist eine Versammlung von Fürsten und hohen Generälen. Die ebenfalls anwesende Delegation von Abgeordneten des Norddeutschen Reichstages erscheint im Bilde nicht. Bismarck hatte mit der Reichsgründung weitgehend die Wünsche der meisten nationalgesinnten Deutschen erfüllt, aber er vollzog diesen Akt ohne aktive Teilnahme der Volksvertretung. Es war die Zeit, wo der Mensch erst beim Leutnant anfing und der Spruch: „der höchste Gott im deutschen Land: das ist und bleibt der Leutnant“. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass Otto Fürst von Bismarck trotz seines hohen Alters dem jungen Kaiser Wilhelm II. stehend seine politischen Referate vortrug.
Vor allem auf Grund des heute oft oberflächlichen Bildes von Bismarck, seien hier einige tiefergehende Beispiele gezeigt, welche die Komplexität der Zeit und Notwendigkeiten besser andeuten.
Bismarck hatte anscheinend einen Charakter, in dem sich höchste, bis zum krankhaften gesteigerte seelische Reizbarkeit mit unbeugsamer Willenskraft vereinigte; ein Politiker, der alle Mittel höfischer Intrige und diplomatischer Raffinements virtuos beherrschte und den zugleich ein nur aus ältesten Traditionen erklärbares Vasallen-Verhältnis mit seinem König verband.
In der Außenpolitik stellte sich Bismarck deutlich auf die Seite Russlands.

Er schrieb, die Verbindung mit Russland:
„hatte mir früher auch als sicherer gegolten, weil ich die traditionelle dynastische Freundschaft, die Gemeinschaft des monarchischen Erhaltungstriebes und die Abwesenheit aller eingeborenen Gegensätze in der Politik für sicherer hielt als die wandelbaren Eindrücke der öffentlichen Meinung in der ungarischen, slawischen und katholischen Bevölkerung der habsburgischen Monarchie“ .
Oft betonte er:
„Ziel meiner Politik war das Vertrauen nicht nur der mindermächtigen europäischen Staaten, sondern auch der großen Mächte zu erwerben; dass die deutsche Politik, nach dem sie die in juria temporum, die Zersplitterung der Nation, gut gemacht hat, friedliebend und gerecht sein will. “
Der ehemalige Außenminister der Vereinigten Staaten, Henry Kissinger, hat Bismarck als „Lehrmeister für ein neues System der kollektiven Sicherheit empfohlen“. Das Andenken seines berühmten Großvaters hochzuhalten, bemüht Fürst Ferdinand von Bismarck, der betont: „Er war ein bewundernswerter Mensch, der Großartiges geleistet hat. Sicherlich, er war auch Machtmensch. Aber ohne Machtbewusstsein kann man kein Politiker sein. Das gehört einfach dazu“.
Fürst Ferdinand bestreitet kategorisch die Meinung einiger Historiker, die Bismarck als Wegbreiter Hitlers sehen.
„Bismarck hat nie von einem Volk ohne Raum gesprochen und wollte auch nicht den Osten erobern. Er hatte auch keine rassistischen Vorstellungen, die er in die Welt tragen wollte. Für ihn war Deutschland saturiert, er suchte keine Expansion … Bismarck hat das moderne Deutschland geschaffen, und es war stark genug, um – trotz aller Widrigkeiten – bis zu heutigen Tag fortzubestehen. Darin liegt seine Leistung. Die geschichtlichen und politischen Überzeugungen seines Großvaters schildert Fürst Ferdinand von Bismarck in seinem autobiographischen Buch .
Innenpolitisch ging Bismarck gegen die Zeit. Er hielt sein Preußen-Deutschland und daneben Österreich und Russland für die drei Ordnungsmächte in Europa. Ein deutscher Imperialismus auf der Grundlage des Nationalstaates hatte in seinem Denken keinen Platz. Bismarck hat Deutschland als eine Großmacht unter den anderen gesehen.

Dieses Maß seiner durchaus friedlichen Politik entsprach seinem vollendeten Realismus:

„Unser Interesse ist, den Frieden zu erhalten, während unsre continentalen Nachbarn ohne Ausnahme Wünsche haben, geheime oder amtlich bekannte, die nur durch Krieg zu erfüllen sind. Dementsprechend müssen wir unsre Politik einrichten, das heißt den Krieg nach Möglichkeit hindern oder einschränken, uns in dem europäischen Kartenspiele die Hinterhand wahren und uns durch keine Ungeduld, keine Gefälligkeit auf Kosten des Landes, keine Eitelkeit oder befreundete Provocation vor der Zeit aus dem abwartenden Stadium in das handelnde drängen lassen; wenn nicht, plectuntur Achivi. …
Unsre Zurückhaltung kann vernünftiger Weise nicht den Zweck haben, über irgendeinen unsrer Nachbarn oder möglichen Gegner mit geschonten Kräften herzufallen, nachdem die Andern sich geschwächt hätten. Im Gegenteil sollten wir uns bemühen, die Verstimmungen, welche unser Heranwachsen zu einer wirklichen Großmacht hervorgerufen hat, durch den ehrlichen und friedliebenden Gebrauch unsrer Schwerkraft abzuschwächen, um die Welt zu überzeugen, dass eine deutsche Hegemonie in Europa nützlicher und unparteiischer, auch unschädlicher für die Freiheit andrer wirkt als eine französische, russische oder englische. Die Achtung von den Rechten andrer Staaten, an welcher namentlich Frankreich in den Zeiten seiner Übergewichts es hat fehlen lassen, und die in England doch nur so weit reicht, als die englischen Interessen nicht berührt werden, wird dem Deutschen Reiche und seiner Politik erleichtert, einerseits durch die Objectivität des deutschen Charakters, andrerseits durch die verdienstlose Tatsache, dass wir eine Vergrößerung unsres unmittelbaren Gebietes nicht brauchen, auch nicht herstellen können, ohne die centrifugalen Elemente im eignen Gebiete zu stärken…“ .

Die Diktaturpolitik im Innern und die Russenfreundschaft im Äußern passten zusammen. Zu einem Angriffskrieg gegen Österreich und Frankreich, wie ihn Zar Alexander II. von Russland in Berlin vorschlug, konnte sich Preußen freilich nicht entschließen.

Veit Valentin betonte, dass Preußen diese Kriege gesondert führte, und:
„auf eigene Rechnung, immer mit der russischen Rückendeckung. Bismarcks Außenpolitik legte sich nicht fest, sie erhielt sich elastisch, sie trennte jede mögliche Gruppierungen der Nachbarmächte und behielt sich selbst jede mögliche Bündniskombination vor. Bismarck benutzte die Prinzipiengläubigkeit seiner Partner – sein eigenes Ziel war die preußische Machtvermehrung, allen Prinzipien der Zeit zum Trotz.“
Bismarck führte drei Kriege, „alle drei während des ersten Jahrzehnts seiner Amtsführung; er sah im Kriege ein unentbehrliches Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele, aber niemals etwas Schönes oder Wünschenswertes. Auf die kurze Kriegsepoche folgte eine lange Friedensepoche, die der maßvollen Befestigung des Errungenen gewidmet war. Bismarck war kein Welteroberer, sondern ein ebenso kühner wie vorsichtiger Staatsmann“.
Bismarck kannte Russland sehr gut mit seiner allslawischen Ideologie, der russisch-bourgeoisen Expansionssucht und den revolutionären terroristischen Massenbewegungen. Er wünschte keine Konflikte mit Russland.
Bismarck war zudem nie antisemitisch gestimmt. Er hatte einen jüdischen Bankier, den in den Adelstand erhobenen Gerson Bleichröder, der einer der erfolgreichsten, zuverlässigsten und intelligentesten Führer des damaligen Wirtschaftslebens war. Durch seine zahlreichen Verbindungen mit dem Hause Rotschild konnte er dem Fürsten Bismarck wesentliche Dienste leisten und verwaltete mustergültig an der Börse sein Privatvermögen.
Bismarcks Forderungen über Zollpflicht sind noch aktuell im 21. Jahrhundert. Er schrieb an den Bundesrat am 15. Dez. 1878:
„Ich lasse dahingestellt, ob ein Zustand vollkommener, gegenseitiger Freiheit des internationalen Verkehrs, wie ihn die Theorie des Freihandels als Ziel vor Auge hat, dem Interesse Deutschlands entsprechen würde. Solange aber die meisten der Länder, auf welche wir mit unserem Verkehr angewiesen sind, sich mit Zollschranken umgeben und die Tendenz zur Erhöhung derselben noch im steigenden Begriffen ist, erscheint es mir gerechtfertigt und im wirtschaftlichen Interesse der Nation geboten, uns in der Befriedigung unserer finanziellen Bedürfnisse nicht durch die Besorgnisse einschränken zu lassen, dass durch dieselben deutschen Produkte eine geringe Bevorzugung vor ausländischen erfahren. Die Rückkehr zu dem Prinzip der allgemeinen Zollpflicht entspricht der jetzigen Lage unserer handelspolitischen Verhältnisse…“

Die Bismarcks sind eine alte Patrizierfamilie, die in Stendal bereits 1270 urkundlich erwähnt wird. Sie standen im Dienst des Bischofs von Havelberg und schützten die Grenzen seines Bistums (Biskopesmark). Die Familie, die heute auf Schloß Friedrichsruh bei Hamburg lebt, brachte miut dem Eisernen Kanzler einen der bedeutendsten Staatsmänner Europass hervor. Direkt an der Bahnlinie Hamburg-Berlin pilgern Bismarck-Anhänger zum Mausoleum und stehen ehrfürchtig vor seinem Marmorsarkophag. Kaiser Wilhelm I. hat dem Reichsgründer Bismarck 1871 in Anerkennung seiner Verdienste den Titel eines Fürsten verliehen und den Sachsenwald zum Geschenk gemacht. Den Platz, auf dem die Gruftkapelle errichtet wurde, hat Bismarck selbst bestimmt. Er wollte, so sagte er einst, „auch nach dem Tode mit dem Leben verbunden sein“.

Otto von Bismarck-Schönhausen und gleichsam Herzog von Lauenburg, wurde geboren als Sohn des hier kurz beschriebenen märkischen Adelsgeschlechtes am 1. April 1815 auf Schloss Schönhausen an der Elbe in der Altmark. Hier ist seit 1562 der Stammsitz der Familie. Ottos Vater, Ferdinand von Bismarck, war ein bodenständiger Gutsherr; seine Mutter Wilhelmine kam aus einer bürgerlichen Familie und hatte Herrschaftliches vor mit ihren beiden Söhnen Otto und Bernhard. „Sie wollte, dass ich viel lernen sollte“ – schrieb Bismarck später – „und es schien mir oft, dass sie hart und kalt gegen mich sei“. Mit 17 nach Gymnasialabschluss begann er in Berlin und Göttingen ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften, wo er sich als Zecher und Fechter einen Namen machte. Schloss Schönhausen, wo Bismarck geboren wurde, ließen die DDR-Oberen die „Junkerburg“ sprengen, heute steht noch ein Seitenflügel. Bereits in seiner Universitätszeit entsteht sein großer Wunsch, eines Tages Politik zu machen. Er schrieb einem Freund „Ich werde entweder der größte Lump, oder der größte Mann Preußens“.
Seine hochfliegenden Pläne versinken nach dem Studium zunächst im Aktenstaub des Berliner Stadtgerichts; er hasste die Arbeit dort. Nach der Referendar-Zeit in Aachen und Potsdam 1836-1839 quittierte Bismarck den Staatsdienst und bewirtschaftete seine Güter, floh zurück aufs Land und übernahm die Verwaltung der väterlichen Güter, die er 1845 erbte, die Güter Kniephausen (das die Bauern nach dem Einzug des jüngeren Gutsherrn und seiner trinkfesten Freunde Kneiphausen nannten) und Schönhausen.
1847 heiratete er Johanna von Puttkammer, die seine große Liebe wird und mit der er drei Kinder hatte: Marie, Herbert und Wilhelm. In seinen vielen zärtlichen Briefen an Johanna schreibt er.
„Du bist mein Anker an der guten Seite des Ufers. Reißt er, so sei Gott meiner Seele gnädig“. Und Johanna steht fest zu ihm:
„Wenn Dich die schändlichen, ekligen Menschen schlecht behandeln, will ich Dich streicheln und Dir liebevoll ins Auge sehen, bis Du alles vergessen hast“.

II. Bismarck als Vorbereiter der Reichsgründung und Kanzler ab 1871

Durch seine Heirat mit Johanna von Puttkamer 1847 gewann Otto v. Bismarck ein sehr enges Verhältnis zum christlichen Glauben. In dieser Zeit wandte er sich auch der Politik zu. Später diente er als Deichhauptmann und Abgeordneter im Provinzial-Landtag. 1847 war er Abgeordneter der Zweiten Preußischen Kammer. Die ersehnte große politische Karriere beginnt mit der Revolution 1848. Das Volk geht auf die Barrikaden und kämpft für mehr Demokratie. König Friedrich Wilhelm IV. lässt seine Truppen aufmarschieren, es gibt 254 Tote. Bismarck ist Landtagsabgeordneter und stellt sich auf die Seite des Königs. Als der Sturm sich legt und der König wieder im Sattel sitzt, hat Bismarck einen guten Namen bei Hofe. Die revolutionären Vorgänge in Berlin 1848 verurteilte er scharf. Er wurde Mitbegründer der „Kreuzzeitungspartei“, die auf dem äußersten rechten Flügel der Konservativen stand. 1850 war er Abgeordneter des Erfurter Parlaments, 1851-59 preußischer Gesandter am Deutschen Bundestag in Frankfurt.
In der Epoche der „Neuen Ära“ wurde Bismarck 1859-1862 als preußischer Gesandter an den Zarenhof in Petersburg versetzt, „an der Newa kaltgestellt“, wie er diese Versetzung empfand. Später diente er als Botschafter in Paris. 1862 erfolgte seine Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten. Er schwört, die Macht des Königs zu stärken, und hält das Wort.

Von Anfang an setzte er sich für die Gleichberechtigung Preußens ein und lehnte den Führungsanspruch Österreichs mit Entschiedenheit ab. Das führte zu einer Verschärfung des Dualismus zwischen beiden Großmächten. Bismarck kam schon hier zu der Überzeugung, dass im Deutschen Bund der Platz für zwei Großmächte zu eng war, dass eine von beiden eines Tages zu weichen hatte. Für ihn konnte dies nur Österreich sein. Bismarck wollte Deutschland unter preußischer Führung einigen. Diese Einigung aber musste nach seiner Meinung „von oben“ durch gemeinsamen Beschluss der Landesfürsten zustande kommen und nicht durch die liberale und nationale Volksbewegung.
Diesem Ziel stand Österreich im Wege. Konsequent verfolgte Bismarck daher seinen Plan, Österreich als Mitbewerber um die Führungsposition in diesem zukünftigen Deutschland auszuschalten. Das gelang in dem militärischen Feldzug 1866 in der Entscheidungsschlacht von Königgrätz (Preußische Truppen gegen Truppen aus Österreich und Sachsen). Schon Jacob Burckhard bezeichnete den Sieg Preußens über Österreich als „große deutsche Revolution“, und Michael Stürmer nannte es „Revolution von oben“. Im Norddeutschen Bund wurde die kommende Reichsbildung und Reichsverfassung vorbereitet. Die geschickte Ausnutzung des nahezu alle Deutschen verbindenden Nationalgefühls beim Ausbruch des Krieges mit Frankreich 1870 bereitete die Reichsgründung vor, die mit Zustimmung aller Fürsten nochwährend des Krieges am 18 Januar 1871 in Versailles vollzogen wurde. Bismarck wurde im neuen deutschen Kaiserreich der erste Reichskanzler. Wolfgang Mommsen bezeichnete die Gründung des Deutschen Reiches durch Bismarck als „konservative Gegenrevolution von oben“. Zum Begriff der „Konservativen Revolution“ gibt es zahlreiche Quellen .
Nach 1871 beginnt die Zeit Bismarckscher Friedenspolitik. Mit Hilfe eines Bündnissystems entwickelt er eine neue „Balance of power“, die den Krieg zwischen den Großmächten verhindern soll. Durch kluge und ausgewogene Politik gelang es ihm, das neue Großreich in der Mitte Europas innerhalb der übrigen europäischen Großmächte zu etablieren und durch ein ausgeklügeltes Bündnissystem außenpolitisch abzusichern. 1871 wurde Bismarck in den Fürstenstand erhoben.
In der Innenpolitik übersah Bismarck in seinem konservativen Bestreben, die Monarchie mit allen Mitteln gegen jede liberale, demokratische und sozialistische Strömung abzuschirmen, die Notwendigkeit, den durch die Industrialisierung erfolgten gesellschaftlichen Veränderungen des modernen Staates Rechnung zu tragen.
Im Kulturkampf gegen den politischen Katholizismus musste er ebenso eine Niederlage einstecken wie in seinem Versuch, mit dem Sozialistengesetz die neuen politischen Kräfte der Sozialdemokratie als Staatsfeinde einzustufen und zu vernichten. Als epochenmachend gilt heute die Einführung der Sozialgesetze, die ihre werbende Wirkung auf die Arbeiterschaft infolge des Kampfes gegen die Sozialdemokratie verfehlte. Nach dem Tode Kaiser Wilhelms I. und wenige Monate später auch nach dem Tode Kaiser Friedrichs im Jahre 1888 kam es in dem Verhältnis zwischen dem Kanzler und dem jungen Kaiser Wilhelm II. zu Spannungen. Meinungsunterschiede über die politische Führungsarbeit führten im März 1890 zur Entlassung Bismarcks.

III. Was vom Kanzler übrig blieb

Die Bismarck-Legende zeigt die Größe und Elastizität seiner Politik. Diese Legende ruhte auch auf bismarckscher, orthodoxer Russenfreundschaft. Bismarck hoffte, nach seiner Entlassung den Rückversicherungsvertrag mit Russland noch einmal erneuern zu können.

1890 erfolgte die Verleihung des Titels eines Herzogs von Lauenburg. Vier Jahre später starb seine Ehefrau Johanna. Bismark selbst stirbt am 30. Juli 1898 in Friedrichsruh bei Hamburg. Seine letzten Worte waren vermutlich: „Gib, dass ich meine Johanna wiedersehe!“.
Die drei Kinder Bismarcks waren Tochter Maria und zwei Söhne, Herbert (1849-1904), Staatssekretär des Auswärtigen Amtes 1886-1890, und Wilhelm (1852-1901), Oberpräsident von Ostpreußen 1895, fühlten sich auch verpflichtet Deutschland und Menschheit zu dienen, um, wie Bismarck einst sagte, „die geschichtsbindenden Kräfte, Zeiten und Kulturen“ zu spüren.
Ein Enkelkind, Gottfried Bismarck, schloss sich der Widerstandsgruppe 1944 um Graf Stauffenberg an und wurde vor dem Volksgerichtshof wegen Hochverrats angeklagt. Er kam ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Die Fürstin Ann-Marie gründete eine private Hilfsorganisation und etablierte Wohnungsbauprogramme für Flüchtlinge. Die meisten Bismarcks wurden im Zweiten Weltkrieg selbst Flüchtlinge. Die Fürstin Elisabeth, eine geborene belgische Gräfin Lippens, ist seit 1960 mit dem Chef des Hauses Bismarck verheiratet und baute den „Garten der Schmetterlinge“ auf, der sich zu einer Besucherattraktion entwickelt hat. (Schmetterlinge symbolisieren Freiheit). Sie unterstützt krebskranke Kinder.
Der Ruhm Bismarcks geht jedoch weit über Europa hinaus. In den USA gibt es in Nord Dakota die Stadt Bismarck, in Oberschlesien einen Bezirk „Bismarckhütte“. Eine Inselgruppe in der Nähe von Australien trägt seinen Namen, (Bismarck-Archipel), zudem wissen viele von Bismarck-Schiffen sowie Mineralwasser und Schnaps mit seinem Namen.

Zeitgenossen und spätere Künstler waren offenbar noch Generationen später von der einnehmenden Person stark interessiert. Die glühende Kraft von Bismarcks Sprache bewunderten u. a. Theodor Fontane, Richard Wagner, Gustav Freytag, Fritz Reuter, Fr. Spielhagen, G. Hauptmann, Hugo von Hoffmannstahl, A. Schnitzler, G. Heym, R. Rilke, E. Stadler; H. Hesse und viele andere deutsche und russische Dichter und Denker wie I. Turgenev, F. Dostojewskij, A. Gontscharov; F. Tütchev, Tolstoi, N. Nekrassov, A. Solschenizyn, V. Nabokov.

Bismarck findet ausführliche Beschreibung bei Autoren wie Nietzsche, Thomas und Heinrich Mann, Leon Feuchtwanger, oder Stefan Zweig und Arnold Zweig.

Neben Luther und Goethe gehört Otto von Bismarck für viele zu den besten deutschen Stilisten und Titanen der deutschen Redekunst.
Mit Begeisterung schrieb über Bismarck der große russische religiöse Philosoph Semeon Frank. Über Bismarck findet man Erwähnungen bei Alexander Herzen, Vladimir Solovjev, Fürst Kropotkin, S. Askoldov, Nikolaj Berdjaev, Karssavin, Lev Shestov, Vladimir Nabokov, Fjedor Stepun, Dmitrij Tschizewskij, Leo Tolstoi, F. Dostojewski. Mit Begeisterung schreibt über sein politisches Können der berühmte englische Historiker A. J. Toynbee und der niederländische Kulturhistoriker Huizinga.
In seiner Arbeit schrieb Simon L. Frank: „Bismarck schöpfte sein Können, souverän über die Menschen zu herrschen nicht nur aus den Kenntnissen der Intrigen der Diplomatie und der politischen Parteien, aber weil er sehr gut die Lehre von B. Spinoza und W. Shakespeare begriffen hat … Bismarck war ein Realist und nie ein Doktrinär. Er beherrschte das Können, weite Fernen zu übersehen, er sah die Realität in ihrer Fülle und Objektivität“(S.18). Die echten Staatsmänner sind die echten Meister des Lebens, solche Typen wie O. Cromwell, Napoleon und Bismarck. Alle drei waren immer religiös weise Männer, wie es üblich auch für die echten genialen Gelehrten der Fall ist. Es ist egal, ob sie ihre Lebensweißheit aus den religiösen Überzeugungen schöpften oder umgekehrt, sie kamen zu den religiösen Überzeugungen auf der Grundlage der Lebenserfahrungen“ .

IV. Bismarcks autobiographisches Vermächtnis

Bismarck war kein Schriftsteller und erst recht kein Literat, aber der geistes-geschichtliche Rang seiner „Gedanken und Erinnerungen“ ist nur deutlicher geworden, je mehr sich das politische Gespräch von ihm entfernt hat .

Man kann Bismarcks Memoiren mit Friedrich Hebbels „Aufzeichnungen aus meinem Leben“ (1846-1854), „Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens“ von Carl August Varnhagens, Franz Grillparzers „Selbstbiographie 1853-54“, mit Karl Gutzkows „Aus der Knabenzeit“, und Fontanes „Rückblick auf mein Leben“ (1875) und sogar mit dessen „Kinderjahren“ (1893) oder “Von Zwanzig bis Dreißig“ (1898) vergleichen.

Der erste Teil der Memoiren erschien in zwei Teilen 1898, der zweite Band 1921 unter dem von Bismarck zugedachten Titel „Erinnerungen und Gedanken“. Memoiren zu schreiben wollte Bismarck schon um 1870, aber erst nach seiner Entlassung widmete er seine Kräfte diesem Werk; im Oktober 1890 bis Dezember 1891 diktierte er in Friedrichsruh dem im Ruhestand lebenden Geheimrat Lothar Bucher, der einer seiner engsten Mitarbeiter im Außenministerium war, diese Erinnerungen. Im Mai 1892 brachte Bucher diese entstandenen Diktate in mühsamer Arbeit unter Hinzufügung von Briefen und anderen Dokumenten in eine chronologische Ordnung. Bismarck unterzog sie einer teilweise detaillierten Überarbeitung. Erst 1897 lagen die Druckfahnen vor. Die sprachliche und sachliche Substanz seines Werkes blieb unverändert. Nach dem Tod Buchers 1892 half Bismarck sein Hausarzt und Sekretär Rudolf Chrysander. Nach dem Tod des Kanzlers betraute sein Sohn Herbert zusammen mit Historiker Horst Kohl diesen Fahnensatz zur Herausgabe. Die Memoiren erschienen im November 1898 unter dem vom Kohl stammenden Titel „Gedanken und Erinnerungen“. Der zweite Band sollte wegen der darin enthaltenen Details gegen Kaiser Wilhelm II. erst nach dessen Tod publiziert werden. Der zweite Band erschien erst 1921. Die Memoiren von Bismarck warfen große Kritik auf. Mit Herausgabe seiner Memoiren beschäftigten sich auch Gerhard Ritter und Rudolf Stadelmann (1932).
Im ersten Buch gibt Bismarck kurze Einblicke in seine Jugendentwicklung und widmet sich den Jahren unter Regierung Friedrich Wilhelm IV. (reg. 1840-1857) vor seiner Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten 1862. Das war am Beginn seiner politischen Wirksamkeit. In dramatischer und manchmal zugespitzter Form schildert Bismarck die Ereignisse der Revolution 1848, seine Tätigkeit als Bundestagsgesandter in Frankfurt (1851-1859), als preußischer Gesandter in Petersburg (1859-1862) sowie Paris (1862). Den ersten Band beschließen ein Porträt Kaiser Wilhelms I. wie auch die Schilderung der Zusammenarbeit mit seinem Nachfolger, Kaiser Friedrich III. (reg. 9.03.-15.06.1888), zudem enthält dieser Teil Erwägungen über die „Zukünftige Politik Russlands“.
Im zweiten Buch schildert Bismarck die Ereignisse des Verfassungskonfliktes zwischen König Wilhelm I. (reg. 1861-1888) und dem Preußischen Abgeordnetenhaus, auf dessen Höhepunkt der König Bismarck zum Ministerpräsidenten ernannte (23.09.1862), die preußisch-österreichische Allianz sowie den Krieg und die Gründung des Norddeutschen Bundes 1866; den Deutsch-Französische Krieg von 1870/1871 und schließlich die Proklamation Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser in Versailles am 18.01.1871. In diesem Band finden wir auch die Bismarcksche Darstellung des Konfliktes mit der katholischen Kirche (Kulturkampf), den Berliner Kongress von 1878, die Erweiterung des Zweibundes mit Österreich zum Dreibund durch Beitritt Italiens 1882 sowie die inneren Verhältnisse mit Preußen, sein Bruch mit Konservativen, Intrigen und die politischen Ressorts.
Im zweiten Band kommt Bismarcks Befürchtung zum Ausdruck, unter Wilhelm II. werde von ihm das kunstvoll erbaute Allianz-System auseinanderbrechen und vor allem dem russischen Partner nicht mehr die nötige Aufmerksamkeit geschenkt. Bismarck kritisierte die persönlichen Eigenschaften Wilhelm II., seinen „populären Absolutismus“, die prahlerische, für Bismarck unerträgliche Rhetorik, seine verderbliche sozialpolitischen Impulse.
Bismarck zeigte hier seine natürliche Neigung und Begabung, die Dinge konkret und unverblümt beim Namen zu nennen. Der Reiz und Eigenart dieser Erinnerungen liegt im Wechsel von brillant-anekdotischer Erzählung zu ausgedehnter politischer Reflexion. So entsteht ein Bild eines außerordentlichen politischen Menschen, der stets an den Situationen wuchs, denen er gegenüber trat.

V. Kritischer Umgang mit dem Helden

Noch zu Bismarcks Lebzeiten begann der Historiker Horst E. Kohl einen bedeutenden und wegweisenden Kommentar zu Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ . Danach entstand die besondere Kritik und kritische Würdigung seines Werks. Dies findet man in Artikeln von M. Lenz, E. Marck, O. Kaemmel, G. Schmoller, H. Ulmann, R. Fester, R. Pahncke, W. Schüssler, M. Spahn, J. Bauermann, G. Grundmann.
Die Geschichtsforschung hat Irrtümer Bismarcks festgestellt, die politische Entwicklung, welche seine Auffassungen in mancher Hinsicht widerlegt und subjektive Züge in der Darstellung vieler Dinge durch Bismarck sind offenbar geworden. Dennoch gelten seine „Gedanken und Erinnerungen“ heute mit Worten Friedrich Gundolfs als „das gewaltigste politische Schriftwerk unseres Volkes“. Der politischen Macht von der Zeit beraubt, sammelte sich Bismarcks brachliegende Kraft in der Darstellung und Rechtfertigung seiner Zeit, in Betrachtung, Warnung und Prophetie. Nur in wenigen Büchern, die Gestalten der Weltgeschichte hinterlassen haben, wird die Leidenschaft und Besonnenheit, die Gewalt und Sensibilität derart sichtbar, die in den Menschen lebendig ist, in und mit denen sich Abschnitte und Zäsuren und Wendungen der Geschichte ausdrücken und abspielen. Bismarcks Erinnerungsbuch ist nicht nur ein „Beitrag zum Verständnis der Vergangenheit“, es ist, wie der alte Kanzler es sich wünschte, auch „eine Lehre für die Zukunft“. Souveräne Entschiedenheit und Demut, Wendigkeit und Achtung vor dem Unwägbaren stehen nebeneinander in seinem Werk, das bestimmt der Weltliteratur angehört. Seine Erinnerungen erreichten einen Maßstab für den menschlichen Rang, der ein politisches Lebenswerk in seiner Summe aus Leistungen und Fehlern groß sein lässt.

Der eiserne Bismarck konnte jedoch auch sehr tiefe Gefühle zeigen. In einem Brief an seine Gemahlin im Juli 1851 schrieb er: „Ich begreife nicht, wie der Mensch, der über sich nachdenkt und doch von Gott nichts weiß oder wissen will, sein Leben vor Verachtung und Langeweile tragen kann. Ich weiß nicht, wie ich das früher ausgehalten habe. Sollte ich jetzt leben wie damals, ohne Gott, ohne Dich und die Kinder – ich wüsste in der Tat nicht, warum ich dies leben nicht ablegen sollte wie ein schmutziges Hemd. Und doch sind die meisten meiner Bekannten so und leben“.
Die Quintessenz einer großen Grundsatzrede, die Reichkanzler Otto von Bismarck am 6. Februar 1888 zur Begründung einer Heeresvorlage im Reichstag hielt, klang so:
„Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt; und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen lässt. Wer ihn trotzdem bricht, der wird sich überzeugen, dass die kampfesfreudige Vaterlandsliebe, welche 1813 die gesamte Bevölkerung des damals schwachen, kleinen und ausgesogenen Preußen unter die Fahnen rief, heutzutage ein Gemeingut der ganzen deutschen Nation ist, und dass derjenige, welcher die deutsche Nation irgendwie angreift, sie einheitlich gewaffnet finden wird und jeden Wehrmann mit dem festen Glauben im Herzen: Gott wird mit uns sein!“
Vielen Historikern ist bis heute verborgen, warum Bismarck als Kanzler jede nationale Großmannsucht bremste. Die Opfer und Dienste, die Staatsräson von jedem Einzelnen in wachsendem Maße verlangte, wie es Bismarck am Anfang von „Erinnerungen und Gedanken“ ausdrückte, zum „Nachdenken über die Ursachen, welche Millionen von Menschen bestimmen können, einem dauernd zu gehorchen“.
Nicht nur der Fürst sollte „Diener des Staates sein, der Staat selbst sollte dem Einzelnen dienen, möglichst viele glücklich machen und nicht mehr als Selbstzweck erscheinen. Zunächst verlangte der Einzelne Schutz von der anwachsenden Staatsständigkeit, die immer weiter in die private Sphäre eingriff und in alle Lebensbezirke einzudringen begann“.

Bismarck gründete den Verein zur Wahrung der Interessen der Großgrundbesitzer und der Förderung des Wohlstandes aller Völkerklassen, die erste konservative Parteiorganisation, die im Volksmund als „Junkerparlament“ betitelt wurde. Die Privilegien des Adels und die Reste des Feudalstaates wurden beseitigt, die Bauernbefreiung zu Ende geführt, die Fideikommisse abgeschafft und im Besonderen das verhasste Jagdrecht auf fremden Grund und Boden, das Bismarck in seinem ersten Zeitungsartikel entrüstet verteidigte.
Es sollte kein Staatskirchentum geben, die geistliche Schulaufsicht wurde abgeschafft, der Unterricht in den Volksschulen sollte unentgeltlich sein. 1875 wurde für das ganze Reich die obligatorische Zivilehe eingeführt und der Taufzwang aufgehoben (Beurkundung des Personenstandes durch Standesämter). Bismarck betrachtete das neue Deutschland als einen „saturierten“ Staat, der keines Machtzuwachses mehr bedurfte.

Der „letzte große Staatsmann Europas“, Otto von Bismarck, dachte im Sinne des überlieferten Staatensystems, das erst durch die nationalstaatliche Einigung Italiens und Deutschlands seine Vollendung erfahren hatte. Bismarcks Außenpolitik seit 1871 ging darauf aus, die bestehenden „Machtverhältnisse Europas in einem System des Friedens zu erhalten. Bismarck suchte ständig Freundschaft mit Russland. Er sah in Russland die befreundete Monarchie, deren Gewicht im Kreise der Mächte weitgehend auf dem starken deutschen Anteil an der führenden Schicht beruhte, die zu dem durch die polnische Frage an die Interessengemeinschaft mit Preußen gebunden war. Russland war für Bismarck nicht aggressive, sondern konservative Macht, deren Aufgabe in Asien lag. Das folgenreiche Ergebnis seiner Petersburger Mission 1859/62 war ja gewesen, dass das Zarenreich die preußisch- deutsche Einigung akzeptierte. Noch 1867 bezweifelte er, dass in Russland jemals eine antideutsche Stimmung Oberhand gewinne. Er hat im Blick die unverbrauchte Kraft der Slawen beobachtet und wohlbedacht richtig prophezeit:“ Vielleicht hält der Osten die Schlüssel der Zukunft Europas: China; Russland oder beide“ .
Bismarck baute seine Pläne auf einer scharfsichtigen Diagnose und kühnen Prognosen der weltpolitischen Lage auf. Bismarcks Politik und die Gründung des Staates waren aber auch undenklich ohne die Rückdeckung, die Russland ihm bot.
Seine Politik war Revolution von oben. Noch in heutigen deutschen Schulbüchern findet man die begeisterte Meinung über Bismarcks Innenpolitik und seine Verdienste. Er schuf in der „Verfassung des Deutschen Reiches einen Kompromiss zwischen dem überlieferten monarchischen Staat und den Forderungen der Liberalen, die den Vertretern des Volkes sowohl das Recht der Gesetzgebung als auch den bestimmenden Einfluss auf die Regierung in die Hand geben wollten. Das war durchs Bismarcks Person autoritär geführte Monarchie mit dem demokratischen Zusatz . Mit vollem Recht betonen die Herausgeber der „Grundzüge der Geschichte“ Hans-Georg Fernis (Mainz) und Heinrich Haverkamp (Düsseldorf):
„Der Reichstag hatte sehr begrenzte Rechte, da der Kanzler lediglich durch das Vertrauen des Kaisers getragen und auf die Mitwirkung der außerpreußischen Politik angewiesen war. Für die Gesetze freilich musste er jeweils eine Mehrheit im Reichstag finden. Bismarck hielt sich unabhängig von den Parteien und spielte sie gegeneinander aus, wenn es galt eine Mehrheit zu finden“ .
Das bedeutet, dass er auch keine Abhängigkeit von der konservativen Partei trug, aus der er selbst hervorgegangen war. Bismarck suchte die Versöhnung mit den Liberalen. Die Reichsgründung führte ihm den größten Teil der Liberalen zu. Nach der Enttäuschung von 1848 hatten sie sich mehr und mehr wirtschaftlichen Tätigkeiten zugewandt. Deutschland schuf sich später als die anderen großen europäischen Völker seinen nationalen Staat, und kam verspätet zur kolonialen „Aufteilung der Erde“, was jedoch zunächst nicht zwingend als Nachteil deutlich war. Durch die rapide Industrialisierung verstärkte sich die innere Wirtschaftskraft enorm, und somit hinkte Deutschland in vielen Dingen nicht etwa den anderen Ländern hinterher. Durch die Kraft der Industrie entwickelten sich gleichsam Arbeiterparteien, und viele fürchteten zu viel Macht in den Händen der Proletarier, die vom „Gespenst“ des Marxismus vielfacht vereinnahmt wurden.

Bismarck regierte hierbei im eigenem Lande mit der „Peitsche“ von staatlichen Verfolgungen und Verboten (Sozialistengesetze) und dem „Zuckerbrot“ einer fortschrittlichen Sozialgesetzgebung (Kranken-, Unfall-, Rentenversicherung für Arbeiter), und, wie Schwanitz bemerkte, „behandelte er die Sozialdemokraten genauso wie die Liberalen, denen er die Peitsche des autoritären Staates mit dem Zuckerbrot des Nationalsozialismus versüßt hatte“ .
Dank Bismarcks Innenpolitik wurde die rapide Modernisierung von Recht, Währungssystem, Post und Eisenbahn vorangetrieben. Das Verkehrsnetz und die allgemeine Infrastruktur sowie das Wirtschaftswachstum waren zeitweise kraftvoller als in den USA. In der Außenpolitik gelang es ihm gleichzeitig, europäische Mächte in komplizierte Bündnisse zu binden, die es unmöglich machen sollten, gegen Deutschland Krieg zu führen. Gewiss war Bismarck eine herausragende Persönlichkeit. Der große Meister in der Kunst des Abwartens, dessen Erfolge zweifellos in großem Maße darauf beruhten, dass er die Psychologie nicht nur seiner Gegenspieler, sondern auch der Nachbarvölker Deutschlands intuitiv richtig erkannte und darauf sein Handeln einstellte, wie Heinz L. Krekeler betonte: „Trotz aller Konflikte, die er durchgekämpft hatte, konnte er auf dem Berliner Kongress die Rolle des ehrlichen Maklers übernehmen“.
Nach Ernst Friedländer hatte der „einsame Schöpfer des deutschen Nationalstaates“ Bismarck das:
„…Deutsche Reich nicht von der Ideologie, auch nicht vom Volke, sondern vom monarchischen Staat Preußen her geschaffen. Er hat es in drei Kriegen erkämpft, gegen Österreich, gegen Frankreich, im Grunde gegen Europa“, – betonte Ernst Friedlaender in seinem Nachwort zu Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“.
„Selten ist eine einschneidende geschichtliche Änderung von einigem Bestand in neuster Zeit so sehr das Werk und die Leistung eines einzigen Mannes gewesen. Er hat in Deutschland gegen unendliche Widerstände gestritten, bei den politischen Parteien, bei den deutschen Teilstaaten, sogar bei dem König, ganz zu schweigen von der Feindin Augusta und dem Kronprinzen Paar. Bismarck war kein deutscher Nationalist, obwohl er Deutschland in den Sattel setzte. Mit den geistigen Bewegungen seiner Zeit verband ihn wenig. Die Demokratie hat er sein Leben lang gehasst, liberale Strömungen für seine Zwecke eingespannt oder im Sinne staatlichen Gleichgewichts, der benutzt. Vom Staate Preußen her lag ihm Deutschland in der „historischen Konsequenz“, wie auch der Krieg mit Frankreich nach dem mit Österreich. Er hat die liberalen Professoren und Autoren im Grunde verachtet und den ganzen großdeutschen Idealismus für substanzloses Gewäsch gehalten“ .

Ernst Fiedler meinte: „Pazifisten von Geblüt werden Bismarck wegen seines tatnahen Wortes vom ´Blut und Eisen´ wohl immer grollen. Den Sozialisten fällt es heute noch schwer, ihm seine unversöhnliche Feindschaft von damals zu verzeihen, den Katholiken ist es kaum gegeben, den Kulturkampf zu vergessen. So gibt es gewisse Erbfeindschaften gegen Bismarck. Und es gibt verspätete Wunschdenker in großer Zahl.“
Fiedler stellt gerechte Fragen: Wäre es nicht viel schöner, wenn Deutschland aus den Stürmen von 1848 hervorgegangen wäre, ohne Krieg, als ein Werk des Volkes und seiner geistigen Führer? Hätten wir nicht die Demokratie zugleich mit dem Nationalstaat gewinnen können? Musste Deutschland ein „kleindeutscher Torso“ bleiben? Es gibt viele quälende Fragen dieser Art bis auf den heutigen Tag.
Das Wort vom „kühnen, gewalttätigen“ Junker, das der Kronprinz am Silvesterabend 1870 in sein Tagebuch schrieb, ist immer noch lebendig:
„Daneben steht die Bismarcklegende, der eiserne Kanzler, die Denkmalsfigur, die schon in seinen letzten Jahren von dem „Alten im Sachsenwalde“ her Form gewann. Da ist er dann nicht mehr gewalttätig, sondern gewaltig, überlebensgroß, ein historischer Gigant zum Ruhme Deutschlands. Und dann wieder die andere Legende, die ihn im Zuge der zum Vorläufer Hitlers stempelt, so wie Hitler selbst es liebte, sich als Größeren, als den Vollender Bismarcks zu begreifen. “
Unbestritten ist: Bismarcks kluge Politik ermöglichte den unwahrscheinlichen Aufschwung des Wohlstandes im Lande nach 1871 und die politische Einigung, die nach ihr steigende ökonomische und industrielle Entwicklung. Der Preuße Bismarck schuf das Kaiserreich unter bewussten und gewollten Verzicht auf vieles Deutsche, das draußen bleiben sollte. Andere, die nicht hineinwollten, wurden hineingezogen. Das Reich wurde ein mächtiger Staat, der mächtigste auf dem Kontinent. Das eiserne Zeitalter zog in Deutschland ein; die industrielle Revolution ergriff von ihm Besitz. Aus dem Kaufmann, dem Handwerkmeister wurden Industrielle; aus dem Gesellen der Arbeiter, zuerst ausgebeuteter Proletarier, nun aber zum Bewusstsein seiner „geschichtlichen Mission“ erwachte Mitglieder der Geschichte seines Landes.

Fünf Jahre nach Bismarcks Sturz verweigerte der Reichstag dem Gründer des Reiches die Glückwünsche zu seinem 80. Geburtstag. Es waren die drei Partien des Zentrums, des Freisinns und der Sozialdemokraten, die auf so schneidende Weise ihre Abneigung gegen den Reichsgründer kundtaten. Bismarck hatte sie oft genug bekämpft, er hatte sie als Reichsfeinde bezeichnet und verhöhnt. Sie zeigten keine menschliche Größe und versöhnliche Geste dem Begründer des deutschen Staates gegenüber. Hätte er diese Einigung nicht getan, Deutschland wäre zersplittert geblieben. So ist die mächtige Gestalt Bismarcks im Hegelschen Sinne zum Werkzeug des Weltgeistes, der sich seiner bemächtigt, um zu Ende zu bringen, was den schwachen Händen der Wohlmeinenden entglitten war. Die Naturen wie Bismarck, Marx und Engels passen nicht in das von Marx entworfene Schema nach dem das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt. Gewiss war das deutsche Volk von industriellen Erfolgen berauscht und unkluge Politiker nach Bismarck, die sehr militaristische, dumme und zerstörerische Politik trieben, die überhaupt nicht im bismarckschen Geiste war, versuchten mit einem Schwertschlag den Platz unter der Sonne dem deutschen Volk zu ermöglichen. Das war nicht nur ein moralischer Fehler, sondern auch politisches Verbrechen, das nie dem Geiste Bismarck entsprach. Die Vorteile soll das deutsche Volk auf dem zivilisatorischen Wege durch den ökonomischen Wettbewerb erreichen. Wie Joschka Fischer schrieb:
„Bismarck hatte den deutschen Nationalstaat geschaffen und wusste mit ihm in Europa umzugehen, aber er, der große „Realist“, hinterließ zugleich keinerlei Tradition an rationaler Interessenpolitik für dieses Deutsche Reich, die seinen Abgang überdauerte. Mit seiner Entlassung schien das Reich fortan von allen guten Geistern der Vernunft verlassen zu sein, und Wilhelm II. ging es fortan weniger um rationale Interessen der Nation als vielmehr um wechselnde Stimmungen und nationalistischen Großmachtprestige“ . Deswegen schätzte Helmut Schmidt vermutlich Bismarcks erfolgreiche, friedenserhaltende Politik in seinem Buch „Die deutschen und ihre Nachbarn. Menschen und Mächte“ (1990).

Wir versuchten in unserem Bericht zu zeigen, wie der St. Petersburger Gesandte Otto von Bismarck, der von dort aus dem Russenfreund zu einem wirklichen Kenner Russlands erwuchs und zu einem großen Meisters des großen diplomatischen Geschäfts wurde, und wie dieser Weltmeister der internationalen Diplomatie zum Reichsgründer mit russischer Rückendeckung wurde.

Zitierte Literatur:

Valentin, Veit: Geschichte der Deutschen. Berlin 1947.
Sethe, Paul: Deutsche Geschichte im letzten Jahrhundert. Hamburg 1960.
Schmidt, Carlo: Europa und die Macht des Geistes. Stuttgart 1973.
Cycon, Dieter: Die glücklichen Jahre Deutschland und Russland. Stuttgart 1991.
Herm, Gerhard: Deutschland-Russland. Tausend Jahre einer seltsamen Freundschaft. Hamburg 1990.
Dostojewski, F.: Tagebuch eines Schriftstellers. München 1906.

Aus vielen Bismarck-Würdigungen seien genannt:

Bussmann, W.: Das Zeitalter Bismarcks. 1962.
Mommsen W.: Bismarck. Ein politisches Lebensbild. 1959.
Richter W: Bismarck. 1962.
Taylor, A. J. P.: Bismark. Mensch und Staatsmann. 1962.

Spezielle Aspekte:

Rothfels, H.: Bismarck und der Staat. Ausgewählte Dokumente. 1964.
Europa und der Norddeutsche Bund, hrsg. v. R. Dietrich. 1968.
Rein, G.A.: Die Reichsgründung in Versailles. 1958.
Reiners L.: Bismarck gründet das Reich 1864-71. 1957.
Zechlin E. Die Reichsgründung. 1981.
Rothfels, H.: Bismarck, der Osten und das Reich. 1962.
Gagliardi, E.: Bismarcks Entlassung. 1927-41, 2 Bde.
Böhme, H.: Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1881. 1966.
Guy Palmade: Das bürgerliche Zeitalter. Fischer Weltgeschichteband 27.
Winkler M.: Bismarcks Bündnispolitik und das europäische Gleichgewicht.1964.
Muralt L.: Von Bismarck. Verantwortlichkeit.1955
Otto Zierer: Bild der Jahrhunderte. Zwanzigstes Buch Herren der Welt.1850-1916. 1966.
Ernst K. Hombrich: Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser. 1998
Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muss. Lexikon. 1999.
Gerhard Linne: Panorama der deutschen Geschichte. Mit einem Vorwort von Golo Mann. Bertelsmann Lexikothek. 1975.
Heinz L. Krekeler: Die Außenpolitik. Eine Einführung in die Grundlagen der internationalen Beziehungen. 1967.